Wiener Diözesangeschichte 1960 - 1996

chen Kreisen mit einer gewissen Verachtung ausge sprochen. Aber es war doch ein Fortschritt gegen frü her. Man nannte sich wenigstens Christen und wollte nicht mehr liberal sein. Im Frühjahr 1889 wurde im III. Wahlkörper des IX. Bezirkes ein Gemeinderatsmandat frei. Meine Freunde stellten mich als Kandidaten auf, obwohl auf einen Erfolg nur schwer zu rechnen war. Die Anti semiten sahen es nicht gerne, daß ein Geistlicher zu ihnen komme und sie in Gefahr brachte, als Klerikale verschrien zu werden. Nichts desto weniger hieß es: Kandidieren. Die Wahlkosten wurden durch Samm lungen aufgebracht. Ich mußte fleißig Reden halten. Das Publikum fing an sich zu rühren. Die Säle wur den bald zu klein. Alles lief uns zu. Die Zeitungen schimpften, was sie konnten, über mich und doch wurde ich gewählt. Das gab große Begeisterung. Auf den Schultern meiner Wähler wurde ich herumgetra gen und mußte Reden halten. — Ich trat im Gemein derat dem ,Bürgerklub' bei. Es ging unter Bürger meister Eduard Uhl und später unter Dr. Johann Prix-®) oft sehr scharf her. Als es sich um die Schaffung von Großwien han delte, mußte ich fest mithalten mit Ansprachen in Versammlungen. Meine längste Rede in dieser Sache — sie dauerte sieben Viertelstunden — hielt ich beim „Auge Gottes" in Döbling — jetzt niedergerissen und in den IX. Bezirk, Nußdorferstraße, verlegt. Großwien mit dem neuen Gemeinderat hat die antisemitische Partei stark geschädigt. Bald aber wandte sich das Blatt und die Antisemiten kamen wieder in die Höhe. Unterdessen ging die Agitation der Christlichsozialen weiter. Sie wurdenimmer mäch tiger und beherrschten bald ganz Wien.Der Liberalis mus kam immer mehr in Verachtung, die Deutsch nationalen und die Anhänger Schönerers hatten wohl Schreier aber keinen Einfluß beim Volk. Schönerer war in Wien ein verlorener Mann infolge seiner I>ummheiten. Vergani'^), Herausgeber des „Deutschen Volksblattes", anfangs streng national, mußte mit uns rechnen, weil Schönerer ihn be kämpfte, und schließlich seine Zeitung in unserem Sinne redigieren. Es gab eine Zeit, wo er uns sein Blatt zum Verkauf anbot. Dr. Pattai, zuerst unser Gegner, sagte gerne: ,Ich bin nicht christlichsozial und protestiere gegen das Eindringen der Geistlichen in die antisemitische Bewegung' — mußte bald vor den Deutschnationalen bei uns Hilfe suchen, und spricht jetzt katholisch wie ein Bischof. Andere Deutschnatio nale unterlagen im Wahlkampf. Wien war christlich. Somit habe i'ch mein Ziel erreicht, das ich durch raeine Teilnahme an der Politik erreichen wollte. Latschka hat tatsächlich während seiner dreizehn jährigen Gemeinderats-Mitgliedschaft (von 1889 bis zu seinem freiwilligen Ausscheiden i. J. 1902) Verschiedentliches und Fortschrittliches angeregt und durchgesetzt. Oft sprach er zu Schulfragen, etwa für die Anschaffung von Kreuzen oder Christusbildern in den Schulen und für die Errichtung geeigneter Loka litäten für den Schulgottesdienst, setzte sich mit be sonderem Eifer für sozialpolitische Fragen ein, indem er z. B. die Errichtung von Warenhäusern, Vorschuß kassen und einer Trödlerhalle in seinem Wahlbezirk (Wien IX.) beantragte, sich für die Einstellung des Hausierhandels.bei Choleragefahr, für die Reform der Armenpflege in Wien und die Beseitigung der Miß stände in der Verwaltung des Jugendasyls in Weinzierl (am Walde, zwischen Kremstal u. Wachau) ver wendete, die Anlegung eines Verzeichnisses der ge meindeeigenen Bauplätze beantragte und anfragte,ob die Gemeindeverwaltung darauf selbst Wohntmgen bauen wolle zur billigen Verwendung für Gemeinde angehörige, was als eine Art kommunale Wohnbau politik am Ende des XIX. Jahrhunderts angesehen werden darf. Weiters wurde er in die Kommission zur Überwachung der städtischen Häuser gewählt, stellte zudem den Antrag auf Besteuerung der Börse, auf Schaffung eines Nutzviehmarktes, wandte sich ge gen die Konzessionsverleihung von Pfandleihanstal ten an Private, trat für die Gewährung von Verpflegskosten für die Mitglieder der Arbeiterkranken kasse in den Spitälern ein, ebenso für die Verstadtlichung der Freiwilligen Rettungsgesellschaft, für die Einführung der elektrischen Beleuchtung am Ring zwischen Kärntnertor und Stubenring und für ein schalldämpfendes Pflaster vor dem Allgemeinen Krankenhaus und gab als ganz modern anmutende Anregung die zur Aufnahme eines Kirchendarlehens®"). „Leider wurde ich durch die vielen Versammlun gen, durch die Aufregungen u. a. völlig nervenkrank", klagt er in seinen Gedenkbuchaufzeichnungen: „Meine Hände zitterten, ich konnte nicht schreiben, der Schlaf schwand dahin, Kopfweh plagte mich und schädigte mein Gedäditnis, kurz, ich mußte ausspan nen". Eine in letzter Stunde verordnete Wasserkur in Brixen tat ihm zwar sehr gut, aber jetzt hießest Auf hören mit dem Agitieren und den zu häufigen Ver sammlungen und Zurückziehen aus der Politik®*). Da zu bewog ihn noch als anderer Grund ein echt sozialkaritatives, überaus zeitgemäßes Werk, dessen Ver wirklichung er wiederum selbst schildert®®). Da ihm das Wohnungselend mit seinen furchtba ren sittlichen Folgeerscheinungen unter den zahlrei chen Arbeiterinnen der damals noch in der Roßau be stehenden Tabakfabrik und auch vieler Dienstboten ans Herz griff, nahm er die Stiftung eines Mädchen asyls in Angriff, für dessen Erhaltung der ebenfalls von ihm gegründete Verein „Christliche Familie" auf kommen sollte. Er hoffte, die Frauen würden sich am meisten für das Los armer Mädchen interessieren und helfen, und behandelte deshalb in seinen Vereins ansprachen gewöhnlich die Auflösung der Familie durch den Liberalismus und die Notwendigkeit, „etwas zu schaffen, um die Arbeiterin in ihrer physi schen und moralischen Kraft zu erhalten". Leiderkam ihm von daher wenig Hilfe, dafür aber viel Verdruß, so daß er die nächste Gelegenheit benützte, das Asyl vom Verein zu lösen. Mit aller Begeisterung half ihm aber eines seiner Beichtkinder, die Erzieherin beim Fürsten Alois Liechtenstein Martha La Serre (?), die nach allen Sei ten hin Bittbriefe aussandte und ihm sogar eine Audienz beim regierenden Fürsten Johannes Liech tenstein verschaffte, wobei er 12.000 fl. zum Ankauf des Hauses in der Nußdorferstraße (Wien IX.) erhielt. Unterdessen hatte Prälat Leopold Stöger®®) für die Kinderbewahranstalt in der Roßau (Wien IX.)das 55

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